The Event (Sobytie)

In diesem Film bedient sich Loznitsa eines bereits früher erprobten Ansatzes: Er nutzt Archivbilder, um drei Tage des gescheiterten Putschversuchs gegen Gorbatschow im August 1991 in Leningrad festzuhalten. Loznitsa montiert die Bilder in chronologischer Abfolge und konzentriert sich auf die Tonspur, die er sorgfältig von Kommentarstimme und Musik der ursprünglichen Fassung befreit. Dieses historische Ereignis gilt heute als Vorbote des Zerfalls der Sowjetunion und der Weigerung der Bevölkerung, weiter unter dem alten Regime zu leben. Doch die Menschen wirken eher verloren als revolutionsbereit und fragen nach den treibenden Kräften hinter den politischen Veränderungen.

 

ÜBER DEN FILM

THE EVENT ist eine eindrucksvolle Found-Footage Dokumentation, die durch seine Machart an Loznitsas Kurzdoku BLOCKADE aus dem Jahr 2005 erinnert. Bei THE EVENT geht es vor allem um die Fragen: Was im August 1991 wirklich passierte? Was war die treibende Kraft hinter den Massenversammlungen am Palastplatz in Leningrad? Was genau sehen wir: den Zerfall eines Regimes oder dessen Neuordnung? Sind die Menschen Sieger oder Opfer?

Der Film beginnt mit einer Szene in der eine kleine Menschenmenge eng beieinander steht, um eine Mitteilung aus einem Radio zu verfolgen. Es geht um eine nationale Krise, einen politischen Notstand. Mehr erfahren die Menschen zunächst nicht. Überall laufen Menschen umher, treffen sich auf öffentlichen Plätzen und versuchen etwas in Erfahrung zu bringen. In ihren Gesichtern: Zweifel, Hoffnung und Angst. Dazu hören wir teils propagandistische Radiobeiträge und teilweise Nachrichten relevante Informationen. Doch was sich genau zugetragen hat, bleibt lange unklar. Für den Zuschauer wie für die Beteiligten Festgehalten wurde das Ganze von acht Kameramännern, die während der politischen Wende vor Ort waren. Loznitsa nutzt die Vielfalt der so entstandenen Bilder und schafft eine Atmosphäre, die seinem vorherigen Film MAIDAN sehr nahe kommt. Mehr noch, es scheint als sei THE EVENT „a logical follow-up to MAIDAN “ (Vgl. Sicinski, Cinema Scope, 2015) Dabei liegt der Schwerpunkt aber weniger auf den optischen Reizen, wie Zaza Rusadze im Künstlerkatalog zum DOK- Leipzig 2015 feststellt:
Loznitsas gekonnte künstlerische Intervention betrifft die Tonspur. Während des dreitägigen Coup d’État sendete das staatliche Fernsehen der UdSSR – wie stets in Krisensituationen – ununterbrochen Aufzeichnungen des Tschaikowski-Balletts „Schwanensee“. Der Regisseur nimmt das Musikmotiv auf, es gliedert den Film in Kapitel. Die Berichterstattung aus dem Radio ist ein weiteres narratives Element, das Loznitsa zu seinem Quasi-Kommentar macht und damit den Zustand der Unsicherheit, des Nicht-Wissens und der Nicht-Information unterstreicht.

Es ist die Verwirrtheit, die Loznitsa schafft und gleichzeitig die Angst der Menschen die dadurch zum Ausdruck gebracht wird. Es ist ein Gefühl von « Verlorensein », allein gelassen in mitten der Menschenmassen in den Straßen von Sankt Petersburg. Die Menschen warten darauf etwas zu hören, Neuigkeiten zu erfahren, doch sie bleiben stets unwissend. Dieser Zustand wird vor allem in der Szene deutlich, in der sich Menschen an einen Türeingang drängen und quetschen und die Hände ausstrecken, nur um lediglich ein Platt Papier mit Informationen und Details zu dem nationalen Ausnahmezustand zu bekommen. Gleichzeitig herrschst ein direkter, teils lautloser Protest gegen kommunistische Strömungen: Überall hängen Plakate oder Transparente und Blockaden werden erreichtet, als Symbol gegen das bolschewistische System.

Der Film konstruiert, betont und kommentiert mit einer gewissen Distanziertheit ohne dabei aber die Schwere der politischen Veränderung verschwinden zu lassen. Das schafft der Filmemacher aus Belarus mit Hilfe eines perfekten Schnitts, der die Geschichte zusammenhängend erzählt ohne jedoch dabei manipulativ zu wirken.

Am Ende wird jedoch nicht ganz klar in welche Richtung sich das Ganze entwickelt; „Most people seem to be both hopeful and horrified, not sure what is going on, fearing the worst but also clearly eager for change.“ (Boyd van Hoeij, The Hollywood Reporter, 2015) Eins ist jedoch sicher: Regisseur Sergei Loznitsa will dass der Zuschauer den Kopf schüttelt, sich fragt, wie Russland nach einer so großen Welle freiheitlicher Solidarität inzwischen wieder in die Hände eines Diktators geraten ist, der – wie einst Stalin selbst – seine Parlamentarier wie Marionetten benutzt. (Vgl. Weissberg, Variety, 2015)

Biografie

Sergei Loznitsa wurde am 5. September 1964 in Branovitchi, in Berlarus geboren. Später zog seine Familie nach Kiew, wo Sergei seine Oberschule beendete.

1981 wechselte Loznitsa auf das Kiewer Polytechnische Institut (KPI) und belegte das Fach Angewandte Mathematik. 1987 beendete er sein Studium und arbeitete die folgenden vier Jahre als diplomierter Ingenieur am Institut für Kybernetik in Kiew. Gleichzeitig war er als Übersetzer für Japanisch tütig und begann sich für den Film zu begeistern.

1991 übersiedelte Loznitsa nach Moskau und ließ sich an der staatlichen russischen Filmhochschule WGIK zum Filmregisseur ausbilden. Während seines Studiums entstand unter Mitarbeit von Marat Magambetow die erste Regiearbeit Sewodnja my postroim dom (1996; dt.: „Heute bauen wir ein Haus“). Der 28- minüütige Dokumentarfilm über die Fertigstellung eines Hauses in Russland brachte ihm zahlreiche Auszeichnungen auf internationalen Filmfestivals ein, darunter die Goldene Taube und den MDR-Film-Preis der DOK Leipzig sowie die Dokumentarfilmpreise der Internationalen Filmtage Augsburg und des Filmfestivals von Potsdam.

Seit 2000 arbeitet er vorwiegend am Dokumentarfilmstudio (SPSDF) in Sankt Petersburg. Im Jahr 2001 immigrierte Sergei mit seiner Familie nach Deutschland. Er drehte zahlreiche Dokumentationen und zwei Spielfilme.

 

Dokumentarfilme

1996: TODAY WE ARE GOING TO BUILD A HOUSE (Kurzfilm)
1998: LIFE, AUTUMN (Kurzfilm)
2000: THE TRAIN STOP (Kurzfilm)
2001: SETTLEMENT
2002: PORTRAIT (Kurzfilm)
2003: LANDSCAPE
2004: FACTORY (Kurzfilm)
2005: BLOCKADE (Kurzfilm)
2006: ARTEL (Kurzfilm)
2008: REVUE
2008: NORTHERN LIGHT (Kurzfilm)
2012: THE MIRACLE OF SAINT ANTHONY (Kurzfilm)
2012: THE LETTER (Kurzfilm)
2014: REFLECTIONS (Kurzfilm)
2014: MAIDAN
2015: THE OLD JEWISH CEMENTERY (Kurzfilm)
2015: THE EVENT
2016: AUSTERLITZ
2018: DEN’ POBEDY | VICTORY DAY
2018: PROZESS (Процесс)

Spielfilme

2010: MEIN GLÜCK (Счастье моё)
2012: IM NEBEL (В тумане)
2014: PONTS DE SARAJEVO
2017: DIE SANFTE (Кроткая)
2018: DONBASS (Донбас)

Festivals & Preise

72. La Biennale die Venezia – Out of Competition

TIFF – Toronto International Film Festival

FESTIVAL DE CINE EUROPEO SEVILLA – New Waves. Non Fiction

DOK Leipzig – Filmpreis „Leipziger Ring“ (Bester Dokumentarfilm zum Thema DEMOKRATIE)

San Francisco Film Festival – Official Selection

Material

Filmplakat

Regie Notizen

In The Event I tried to develop my method of working with archival material. I am fascinated and enchanted with the aura of Leningrad/Petersburg, and I am excited by the opportunity to continue the cinematic chronicles of this city. Just as in Blockade, the footage of The Event documents the life of the city at the time of a historical calamity. Perhaps, not as tragic, as it was in Blockade, but nevertheless, crucially significant. Mythology created around the events of the 1991 Putsch has overshadowed the actual facts, and it is only now – 25 years later – that we can distance ourselves from the misconceptions, strip off the layers of propaganda and speculations, and see and judge the events in a contemporary context.

What interests me most is not the politicians, but the people. The protagonists of the film are the citizens of Leningrad, living through the calamities of the coup d’état in August 1991. The film consists of episodes, arranged in chronological order, representing life of the city during those troublesome summer days. We can observe a gradual change in the mood and the spirit of the people: we can see how ordinary life turns into history; people’s faces, singular close-ups taken in the crowd, bear witness to the spirit of the time, the description of which cannot be found in history text books or transcripts of political speeches. Perhaps it is on those faces, with their expression of confusion, disbelief, determination, anger, that we find the answer to the question – what happened in Russia in August 1991 and why it is that we are still puzzled about the meaning of this event today.“

Sergei Loznitsa