Cavalo Dinheiro

Ventura, bereits der Held aus COLOSSAL YOUTH, wird in einer Nervenheilanstalt behandelt. In einer atemberaubenden Mischung aus Realem und Halluziniertem, Begreifbarem und Unbegreifbarem, Fiktionalem und Dokumentarischem und mit einer einzigartigen Bildsprache wird die Vergangenheit Venturas beleuchtet. Ein komplexer Kinotrip, der Ventura als Gefangener des eigenen Geistes und der portugiesischen Geschichte zeigt. CAVALO DINHEIRO Costas vierter Film, bei dem das ehemalige Armenviertel Fontainhas, und seine Bewohner im Zentrum stehen, erhielt 2014 den Regiepreis in Locarno.

 

ÜBER DEN FILM

Cavalo Dinheiro beginnt leise mit einer Reihe schwarz-weißer Fotografien. Mehrere Männer liegen zusammengesackt auf Tischen in einem niedrigen Raum; Männer und Frauen sitzen auf einem Haufen zusammen; weiße und schwarze Erwachsene und Kinder posieren vor ihren Häusern, ihre Blicke sind in die Kamera gerichtet; Dann setzen Ton und Farbe ein und bald erscheint ein gealterter, halbbekleideter kapverdischer Mann, der durch die Dunkelheit Stufen hinabsteigt, wie in einem Kerker.

Dieser Mann, Ventura, ist der Hauptdarsteller von Cavalo Dinheiro. Der Film ist eine Mischung aus Spielund Dokumentarfilm, in der Ventura reale und erdachte Episoden seines Lebens neu erschafft. Die eingeblendeten Fotografien vor seinem Auftritt stammen von Jacob Riis, einem dänischen Einwanderer in den USA, der das Leben der Bewohner New Yorker Mietskasernen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts porträtierte. Indem er diese Fotografien mit Ventura verbindet – ein verarmter Immigrant, der seit Jahrzehnten in Portugal lebt – bettet Regisseur Pedro Costa seinen achten Spielfilm in eine Geschichte der Darstellung ein.

Die Eröffnungsszene des Films verrät, dass Costas Arbeit darin besteht, eine verborgene Unterschicht aufzudecken. Riis’ Fotografien tauchen in der Mitte des Films wie ein Echo erneut auf, in einer Sequenz von Stillleben kapverdischer Einwanderer, nachdenklich in ihren Häusern sitzend oder aus dem Fenster schauend. Den Soundtrack zu dieser Passage liefert die bekannteste Band der Kapverden, Os Tubarões („Die Haie“), die „Alto Cutelo“ singen, ein melancholisches Lied über einen Mann, der zum Arbeiten nach Portugal ging und seine Frau in der Heimat zurückließ.

In Cavalo Dinheiro deutet alles darauf hin, dass Ventura eine Version dieses Mannes ist. Dieser hochgewachsene, einzelgängerische Mann mit dem Blick eines Gejagten und aufgeblähtem Bauch verließ sein Land, eine frühere portugiesische Kolonie in Afrika, um als Bauarbeiter während dem Ende des Estado Novo, der Diktatur in Portugal zu arbeiten.

Er half dabei, mehrere wichtige noch erhaltene Gebäude in Lissabon zu errichten, bis eine Kopfverletzung ihn dazu zwang, in Frührente zu gehen. Viele Jahre lang lebte er mit anderen Kapverdern in dem heute nicht mehr existierendem Lissabonner Slum Fontaínhas. Portugals demokratische Regierung ließ es zu Beginn der 2000er Jahre niederreißen.

Der Hauptteil von Cavalo Dinheiro zeigt einen verwirrten Ventura, der durch lange, dunkle Korridore eines namenlosen Gebäudes streift, das teils wie ein Gefängnis, teils wie eine Nervenheilanstalt aussieht. Zu Beginn erzählt er einer anderen Person, dass bei ihm eine Nervenkrankheit diagnostiziert wurde. Venturas linke Hand zittert unentwegt, und manchmal bebt sein ganzer Körper, wenn schmerzhafte Erinnerungen hochkommen; an anderer Stelle huscht ein Lächeln über sein Gesicht, wenn er sich an seine Frau Zulmira erinnert, die ihm zufolge immer noch auf den Kapverden ist und die er hofft, eines Tages nachholen zu können. Manchmal erscheint er mit einem Stück Papier in seiner Hand, vermutlich ein an sie gerichteter Brief.

Wer Pedro Costas Filme kennt, wird sich vermutlich an Ventura erinnern. In den späten 1990er Jahren entschied sich der Regisseur, in Fontaínhas zu filmen, wobei die dortigen Bewohner seine Schauspieler waren. Das erste Produkt dieser Wahl war das verblüffend direkte Drama Ossos („Knochen“, 1997), mit wenigen Darstellern, das zweite das eher träge Epos In Vandas Zimmer (2000), das intime Porträts der willensstarken Titelfigur Vanda Duarte und der Leute um sie herum vor dem Hintergrund rollender Bulldozer zeigte. Er traf Ventura während der Dreharbeiten zu In Vandas Zimmer, als Figur setzte er ihn aber erst in Jugend Voran! (2006) ein. In dem Film läuft Ventura durch ein schrumpfendes Fontaínhas, das niedergewalzt wird, um Sozial-wohnungen Platz zu machen. Er sucht nach den vielen Menschen, die er seine Kinder nennt (darunter auch Vanda) und fordert sie auf, mit ihm zusammenzuleben.

Costa arbeitet größtenteils ohne Drehbuch, stattdessen schnappt er Stichworte von seinen Hauptdarstellern auf und lässt sie Form und Verlauf seiner Filme bestimmen. Die laute, geschwätzige, häufig sitzende, drogenabhängige Vanda forderte Costa heraus, sie direkt und unbeschönigt zu filmen. Der ruhigere, träumerische Ventura wiederum erlaubte es dem Regisseur, ihm auf seinen Hunderten von Spaziergängen zu folgen und führte Costas Kamera durch seinen Blick, der seine Erinnerung physischen Orten überzustülpen schien.

Ventura and Costa haben bis heute an einer Reihe von Filmen zusammen-gearbeitet, darunter auch die Kurzfilme Tarrafal (2007), The Rabbit Hunters (2007), O Nosso Homem („Unser Mann“, 2010), und Sweet Exorcist (2012), letzterer bestehend aus Szenen, die mit kleinen Änderungen im Schnitt erneut in Cavalo Dinheiro auftauchen.

Diese Filme zeigen den Unterschied zwischen Venturas innerer und äußerer Gedankenwelt zunehmend uneindeutig, indem sie Sequenzen auf nichtlineare Weise aneinanderreihen, als würden sie sich alle in einem einzigen, gegenwärtigen Augenblick entfalten.

Während Cavalo Dinheiro, einem traumähnlichen, fragmenthaften Film, arbeitet sich Ventura durch seinen eigenen Platz innerhalb der portugiesischen Geschichte. Er ist, unter anderem (sowohl im Leben als auch im Film), jemand der auf einer Insel geboren wurde, deren erste Bewohner durch den Sklavenhandel der Portugiesen ins Land kamen; ein Opfer ständiger Armut, dessen Situation sich durch Portugals jüngste Finanzkrise nur noch verschlimmert hat; und ein Augenzeuge der Nelkenrevolution, die den Estado Novo am 25. April 1974 formell beendete. An jenem Tag putschte eine Gruppe junger Soldaten der linksgerichteten MFA (Bewegung der Streitkräfte) Portugals faschistisches Regime mit Unterstützung der Bevölkerung, und machte den Weg frei für eine demokratische Regierung, die im Namen der Ordnung eine Reihe von Unternehmen verstaatlichte, ohne dabei für bessere Bedingungen für die Arbeiter zu sorgen.

Im Verlauf des Films fixiert sich Ventura nicht auf Protestzüge, sondern vielmehr auf seine eigene schreckenerregende Flucht vor den Soldaten, die in den Wäldern nach Dissidenten suchten. Er durchlebt erneut eine schlimme Kopfverletzung, die er am 11. März 1975 bei einem Messerkampf erleidet, am selben Tag an dem ein Gegenputsch scheitert, der zu Restriktionen seitens der Regierung führte. Venturas Leben hat sich seitdem nicht verbessert, eine Tatsache die der Film dann unterstreicht, als er einem Arzt sein Alter nennt: Neunzehn Jahre und drei Monate. Er ist in der Zeit gefangen.

In Cavalo Dinheiro tauchen auch einige seiner Mitgefangenen auf, zwei von ihnen stechen dabei hervor. Die erste Person ist eine Kapverderin namens Vitalina Varela, die in der Einrichtung vor Venturas Augen wie ein Geist auftaucht, langsam wandelnd und mit rauer Stimme flüsternd. Sie erzählt ihm, dass sie vor kurzem zum ersten Mal in Portugal angekommen ist, nachdem ihr Mann gestorben ist, und berichtet über die Zerstörung von Venturas Eigentums auf den Kapverden (darunter auch das titelgebende Pferd, das ihr zufolge von Aasgeiern in Stücke gerissen wurde). Es wird von wechselnder Seite angedeutet, dass Ventura Vitalinas Ehemann umgebracht hat; dass er ein noch lebender Mitinsasse ist, der die bedrohlichen Räume des Gebäudes durchstreift; und dass dieses andere Paar die Projektion seiner Schuld darstellt, nicht zu Hause zu sein;

Die zweite Figur ist die lebende Statue eines Soldaten der Nelkenrevolution (gespielt von Antonio Santos), mit dem zusammen sich Ventura, im Schlafanzug, in der langen Endsequenz des Films plötzlich in einem Aufzug wiederfindet. Dieser wirft Ventura vor, ein nutzloses Leben geführt zu haben und stellt all seine Leistungen in Frage, darauf beharrend, dass man sie bald vergessen haben wird. „Wo bist du jetzt, Ventura?“ fragt er immer wieder, anklagend. Dieses Aufeinandertreffen zwingt Cavalo Dinheiros zitternde Hauptfigur dazu, sich selbst zu erklären, und Wege zu finden, gegen das Vergessen anzukämpfen.

 

Die Fontainhas-Pentalogie

 

OSSOS (HAUT UND KNOCHEN)

Portugal 1997 | R+B: Pedro Costa | K: Emmanuel Machuel | M: Wire, Os Sabura | D: Vanda Duarte, Nuno Vaz, Maria Lipkina, Isabel Ruth, Iñes de Medeiros | 94 min | OmeU |

»Tina, ein stilles Mädchen, ist abgestumpft durch die Armut und Enge ihrer Existenz und kämpft mit psychischen Problemen. Auch ihre neue Rolle als Mutter überfordert sie: Sie dreht den Gashahn auf. Für das Baby ist diese Kurzschlussreaktion nur die erste von vielen Gefahren, denen es ausgesetzt ist. Der Film erzählt nicht nur vonmaterieller Not und Armut, sondern auch von der Armut der Gefühle, von der Unfähigkeit zu kommunizieren, zu lieben und Liebe anzunehmen. Dabei kommentiert, wertet oder moralisiert er nicht: In schonungslosen und zugleich poetischen Bildern beobachtet er seine Figuren, die ihrer Einsamkeit nicht entkommenund die weder ihre innere noch die äußere Enge ihrer Herkunft überwinden können.« (Birgit Kohler)

NO QUARTO DA VANDA (IN VANDAS ZIMMER)

Portugal 2000 | R+B+K: Pedro Costa | M: György Kurtág | D: Vanda Duarte, Zita Duarte, Lena Duarte, António Semedo Moreno, Paulo Nunes | 178 min | OmeU |

»Costa drehte mit einer Digitalkamera, die es ihm ermöglichte, Vanda allein zu begegnen. In Abwesenheit eines Filmteams entstand zwischen den beiden eine gleichgültigvertraute Atmosphäre, die daran zweifeln lässt, ob sich Vanda der Gegenwart der Kamera überhaupt bewusst war. Ob sie dealt, ihre Freunde empfängt oder Erdbeeren putzt, es vergehen nie zehn Minuten, ohne dass sich Vanda einen Schuss setzt, ein minutiöses Ritual, das ihren Alltag prägt.« (Frédéric Mermoud)

JUVENTUDE EM MARCHA (JUGEND VORAN!)

Portugal 2006 | R+B: Pedro Costa | K: Pedro Costa, Leonardo Simões | M: Os Tubarões, György Kurtág | D: Ventura, Vanda Duarte, Beatriz Duarte, Gustavo Sumpta, Cila Cardoso | 154 min | OmeU |

»Costa begleitet Ventura bei seinen Wegen durch einen Slum und ein Neubauquartier am Rande von Lissabon. Der Slum wird abgerissen, die Bewohner werden umgesiedelt, was der Film jedoch nicht zeigt, sondern über die Erzählungen der Figuren einfängt. Mit großer Geduld hört Costa diesen Geschichten zu. Wenn etwa die einst heroinabhängige Vanda davon erzählt, wie sie ihre Tochter zur Welt brachte, dann weiß man genau, warum kein Schnitt das Mäandern ihrer Sätze unterbricht: Die Dauer der Einstellung ist das Einzige, was Vandas Schmerzen gerecht werden kann.« (Cristina Nord)

 

VITALINA VARELA (PT-2019 | Filmseite)

Material

Filmplakat

Interviews

Interview Aaron Cutler in: Cineaste Magazin April 27, 2015 Übersetzung: Johannes Reiß

Cineaste: Wie wollten Sie die Nelkenrevolution in Cavalo Dinheiro darstellen?

Pedro Costa: Zu Anfang möchte ich gerne betonen, dass Sie mich eigentlich gar nicht brauchen, um irgendwas über den Film zu sagen. Ich hoffe, dass dieser Film für sich selbst denken, sehen, hören kann. Vielleicht ärgert das einige Leute, aber es gibt da keine Geheimnisse oder künstlerischen Tricks, die es zu enthüllen gäbe. Alles was ich sagen kann, ist alles was auf der Leinwand zu sehen ist. Die Dreharbeiten waren verheerend. Wir haben viel gezittert. Ventura versucht sich verzweifelt zu erinnern, aber das ist nicht unbedingt das Beste. Ich denke, wir haben diesen Film gemacht um zu vergessen, wirklich zu vergessen, und damit abzuschließen.

Die Nelkenrevolution war nicht so idiotisch, wie der Name vermuten lässt. Diese jungen Hauptmänner, die sie angeführt haben, der Grund aus dem sie es taten – abgesehen von der Beendigung eines 48 Jahre andauerndem faschistischen Regimes in Portugal – war es, mehrere Kriege zu beenden, die von portugiesischen Streitkräften in den Kolonien in Afrika geführt wurden.

Die Arbeit beginnt immer mit Geschichten und Rückblicken auf Venturas Wahrheit, oder auf seine Erinnerung an die Wahrheit. Er und ich waren am selben Ort, als die Nelkenrevolution am 25. April 1974 ihren Lauf nahm. Ich nahm als junger Mann an der Revolution teil, ich konnte Politik, Musik, Filme und Mädchen entdecken und erleben, alles zur gleichen Zeit. Ich rief auf der Straße. Ich war bei der Besetzung von Schulen und Fabriken dabei. Ich war 15, und es war die Zeit meines Lebens. Erst 30 Jahre später fand ich heraus, dass Ventura zur gleichen Zeit an denselben Orten wie ich gewesen war, völlig verängstigt und im Versteck bei seinen Kameraden. Er erzählte mir seine Erinnerungen an eine Zeit, die er, wie er es nennt, in seinem „Gefängnis“ verbrachte, wo er in einen langen, tiefen Schlaf fiel.

Natürlich geht es bei unserer Arbeit auch um das Erinnern. Ventura und ich haben versucht, die Vergangenheit nachzuzeichnen, als würden wir eine Grafik auf eine Tafel zeichnen: Wo warst du am 25. April um 17 Uhr? Wo war ich? Wo warst du, als die Soldaten die Innenstadt stürmten? Als es ernst wurde am 11. März, wo warst du? Hast du deine Frau vergessen? Habe ich meiner Freundin einen Brief geschrieben? Hast du ein Gebäude gebaut, eine Bank? Während ich das Mittelalter studierte, baute Ventura die Bank von Portugal, Stein für Stein, so wie es Maurer Jahrhunderte vor ihm getan hatten. Diese Bank ist vor zwei Jahren beinahe eingestürzt.

Wie steht die Idee einer ewigen Gegenwart im Zusammenhang zu der Art und Weise, wie sie die Charaktere des Films präsentieren?

Freunde von mir sagen, dass ich mit Ventura und Vitalina an einem Punkt ohne Wiederkehr angelangt bin. Der Soldat im Aufzug fragt ständig, „Wo bist du jetzt, Ventura?“ Mein Gefühl ist, dass Ventura und alle seine Brüder und Schwestern in diesen Zeit- und Raumintervallen gefangen sind, wo ihnen nichts mehr gehört. Raum und Zeit gehören ihnen nicht. Sie erkennen nichts mehr. Der ganze Film entfaltet sich in einer Art Kapsel, die viel mehr als ein Krankenhaus ist. Es ist eine Art Gefängnis, oder eine Irrenanstalt. Dieser Ort machte einen wichtigen Teil seines Lebens aus, und des derer um ihn herum. Leben wie unter Betäubung oder in Vergessenheit.

Dieser Film ist jedoch keine Sciene Fiction. Es ist nicht Der Tag an dem die Erde stillstand (1951). Es geht eher um Menschen, die dazu verdammt sind, zu verlieren. Erst verloren sie ihr Land, dann ihre Integrität, ihren Frieden und ihre Freude, und ihre Traditionen. Die Häuser, die sie mit ihren eigenen Händen in Fontaínhas gebaut hatten, wurden niedergerissen. Sie werden schon seit über 500 Jahren von unbarmherzigen Regierungen und der Polizei betrogen, ausgebeutet, geschlagen und umgebracht. Und Vitalina Varela ist nicht Madame X. Sie ist kein Geist. Sie ist eine 50-jährige Kapverderin, die immer noch nicht ihre portugiesischen Papiere hat. Sie ist jemand, der immer noch nicht seine miserable Witwenrente bekommen hat. Vitalina verkörpert all die Frauen die zurückblieben, die vergessen wurden, oder die zu spät kamen. Aber Vitalina ist auch Jugend und das Versprechen der Liebe.
Das Setting im Aufzug ist die Bühne für eine Art Gerichtsverhandlung. Gerechtigkeit steht dem Kino sehr nah. Bei einigen der besten Filme geht es um Rache, nicht wahr? Die meisten Geschichten der Menschheit – ich meine die Geschichten des einfachen Volkes – wurden entweder falsch oder überhaupt nicht erzählt, also muss das Kino sie aufgreifen. Es ist die Aufgabe von Leuten wie Chaplin, Renoir, Straub und Strohheim, Ungerechtigkeit zu rächen. Während der Zeit die man mit ihren Filmen verbringt, stellen sie dieses Rächen nicht nur da, sie tun es.

Für mich ist die wichtigste Aufgabe des Kinos, uns das Gefühl zu geben, dass etwas nicht stimmt. Ich zitiere Buñuel und denke auch an Ozu, ein Mensch der sich niemals die Blöße gegeben hat. In jeder Einstellung jedes seiner Filme kann man diese Unruhe sehen. Sie steckt in den kleinen Dingen. Sie ist kaum sichtbar. Es kann einfach eine zitternde Hand sein, die einen Apfel hält. Es kann ein leerer Raum sein, der von einem geliebten Menschen verlassen wurde.

Filme, die den Blick für Ungerechtigkeit und Gebrechlichkeit verlieren, sind nutzlos.

Warum haben Sie sich entschieden, Cavalo Dinheiro mit Fotografien von Jacob Riis beginnen zu lassen?

Das war eine der am schwierigsten zu schneidenden Sequenzen meines ganzen Lebens. Es ist sehr schwierig, etwas ohne Bewegung zu schneiden, etwas das weder Anfang noch Ende hat. Ich wollte die Intention oder die Versuchung, eine Geschichte oder einen dramatischen Verlauf daraus zu machen, vermeiden, denn die Funktion dieses Vorspanns ist ein anderer: Es soll uns helfen, abzuheben, die Reise zu beginnen, und uns die Stufen hinunterführen, durch die Gänge und Räume die uns beständig zurückführen zum Ausgangspunkt einer immerwährenden Gegenwart.

Wie die Gebrüder Lumière ist auch Jacob Riis ein Pionier. Er erfand eine bestimmte Art und Weise, Dinge zu betrachten, mit einer gewissen Entscheidungsfreiheit bei der Betrachtung. Wie die Lumières begann auch er mit dem Fotografieren und Dokumentieren, verstand aber recht schnell, dass irgendetwas mit der Realität nicht ganz stimmte. So begann er zu wiederholen, zu proben, zu inszenieren. Man sieht in seinen Fotografien einen Haufen Betrunkener an einer Straßenecke, oder einen Mann der ausgeraubt wird, aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man, dass einer von ihnen lächelt und so den Schwindel aufdeckt.

Ich hatte immer das Gefühl, dass ich in Riis Welt gehöre. Auch wenn seine Bilder Szenen des Elends porträtieren, ergeben sie sich nie der Demagogie. Sie sind keine so genannten „Candid shots“ (Ungestellte Aufnahmen). Sie geben uns die Freiheit, das zu sehen was wir wollen. Jacob Riis hat eine bewegende Lebensgeschichte, fast wie bei Charlie Caplin. Eine Zeitlang streifte er durch die Straßen ohne einen Cent in der Tasche, ständig begleitet von einem kleinen streunenden Hund. Er schrieb viel. Die Fotografien waren eine Art Ergänzung zu den Notizen, die er über die Mietskasernen von New York machte. Die Bilder waren ihm nicht genug. Er musste all sein Material benutzen, um dem Machtgefüge zu begegnen.
Er besaß einen noblen Geist. Der Geist und die Arbeit solcher „BürgerFotografen“ hat mich beeinflusst. Bücher wie Riis’ How the Other Half Lives: Studies Among the Tenements of New York (1890) und Let Us Now Praise Famous Men (1941) von James Agee und Walker Evans waren mir immer genau so wichtig wie die besten Filme.

Cavalo Dinheiro ist der jüngste einer Reihe von Filmen, die Sie zusammen mit Ventura gemacht haben. Wie hat sich Ihre Zusammenarbeit mit der Zeit entwickelt?

Es ist mehr und mehr offensichtlich, dass er aufrecht dastehen muss. Er muss über seinen Zustand nachdenken und Dinge sagen, die ich selbst nicht wüsste, wie ich sie sagen sollen. Er ist mein Orakel, und er hat zwei Gesichter. Er ist der Pionier, der Abenteurer, der Einwanderer, der die ganze Gewalt dieser verkommenden Gesellschaft überlebt hat. Gleichzeitig ist er auch der Dummkopf, der gefallene Held. Für mich verkörpert er beides, absolute Wahrheit und unvermeidliches Versagen. Die Leute sehen ihn im Film zittern und denken gleich an Parkinson oder so etwas. Das ist traurig. Haben diese Leute keine Augen? Ich muss dann daran denken, wie viel wir und das Kino durch diesen Verlust verloren haben. Denken Sie an all die zerbrechlichen, verängstigten Menschen in den Filmen von Griffith, Murnau, Borzage und Mizoguchi. Was sie hatten, nannten wir „die menschliche Natur“ oder „die Dämonen unseres Inneren“. Faulkner sprach über „die Trauer und Unmenschlichkeit der Menschheit“.
Zum Glück ist Venturas starke Seite immer noch sehr präsent. Er ist immer noch beeindruckend, und wenn ich das sage, meine ich es im fotografischen Sinn: Gary Cooper, Dana Andrews, Robert Ryan, Jimmy Stewart. Ich denke, er ist der letzte in einer Reihe großartiger Studioschauspieler. Diese Art von Figur sehe ich in Filmen nur noch selten – bei Straub (auch wenn es eine Landschaft ist), manchmal bei Godard, manchmal bei Wang Bing, aber sonst bei kaum jemandem.
Ich brauche ihn also. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich auch braucht Er sagt es mir nie, aber ich weiß dass ihn unsere Arbeit interessiert. Ich glaube, es hilft ihm, seinen vielen Alpträumen zu entfliehen. Der Film hilft ihm, seine Beine in Bewegung zu halten, und manchmal auch seinen Verstand. Wir laufen. Wir wiederholen viele Einstellungen. Wir arbeiten viel. Filme zu machen ist immer noch ein körperlich sehr anstrengender Beruf. Naja, vielleicht nicht so anstrengend wie einen Stein auf den anderen zu legen (wie er zu sagen pflegt), aber es beschäftigt ihn doch und lenkt ihn ab.